Drawing is a verb, sagte Mel Bochner als Vertreter der prozessorientierten Kunst Ende der siebziger Jahre über die eigene Zeichenpraxis und prägte damit das Verhältnis der Kunstwelt zur Zeichnung über Jahrzehnte. Arbeiten auf Papier, so Bochner entstünden zwangsläufig während des Arbeitsprozesses, als Mittel zum Zweck, als Prozessualitätsbeweise, und deswegen sind sie irgendwie auch Kunst, der Weg ist das Ziel.
Knapp 30 Jahre später widerspricht Laura Hoptman, Kuratorin der 2003er Ausstellung Drawing Now im MoMa, indem sie ihren im Begleitkatalog erschienenen Essay Drawing is a noun betitelt und leitete damit einen Paradigmenwechsel ein. Die Zeichnung, so die Kuratorin, hätte sich von der Stigmatisierung der prozessorientierten Kunst emanzipiert, hätte sich, analog zum Werkbegriff, in der zunehmenden Pluralität der künstlerischen Strömungen und Ausdrucksweisen zurückentwickelt, zum selbstbewussten Endprodukt künstlerischer Produktion.
Aber wie dienlich sind Sprache und Grammatik hier überhaupt als Bezugssystem? Stehen Substantiv und Verb überhaupt in Konkurrenz zueinander? Ob die hier angebotene historische Dichotomie wirklich so rein ist, wie von Hoptman dargestellt, ist durchaus fraglich, Hoptmans Verdienste um den Stellenwert der Zeichnung sind es nicht.
17 Jahre nach der offiziellen Substantivierung stellen Tiziana Jill Beck und Claus Georg Stabe bei REITER Zeichnungen aus. Ganz selbstverständlich ernten sie die Früchte von Mrs. Hoptmans Neudefinition des Mediums. Der lange, verschachtelte Ausstellungstitel behauptet zwar zunächst die oben beschriebene Dichotomie, biegt aber dann ab Richtung Frage, um Zustimmung bittend, auf Versöhnung hoffend. Planen hier Verbskizze und Substantivzeichnung die gemeinsame Satzbildung als Happy End und das endgültige Ende der Dichotomie? Wohl kaum. Vielmehr verweist der Titel auf das Wissen um Unterschiedlichkeiten, sowie Text und Sprache als gemeinsames Bezugssystem für die hier ausgestellten Zeichnungen.
Historischer Text dient sowohl bei Beck als auch bei Stabe, trotz aller stilistischen Unterschiede als Ausgangspunkt, als Anlass zur Zeichnung, und nimmt, als sprachlicher Begleiter und Repräsentant von Sprache in Funktion, Einfluss, sowohl auf Methodik als auch Bildinhalt.
So hat Tiziana Jill Beck Martin Kippenbergers Textarbeit "241 Bildtitel zum Ausleihen für Künstler" (1986) als Ausgangspunkt für ihre umfangreiche, stark heterogene Serie Marshmallow Moments genommen, hat zu den angebotenen Titeln assoziativ gezeichnet, die Titel wieder zurückgegeben, die zugehörige Nummer behalten. Drawing is a number?
Claus Georg Stabe zeigt seine aus tausenden Kugelschreiberlinien entstandenen, flirrenden Bildmotive, die sich in dem Moment, in dem sie sich im Auge des/der Betrachter*in manifestieren, schon wieder aufzulösen scheinen.
Stabe, der Musik als das eigentliche Bezugssystem seiner Kunst benennt (Drawing is a sound?), hat für die hier ausgestellte Serie ebenfalls eine Textarbeit als Grundlage gewählt: den "Universal Solar Calendar" des US–amerikanischen Avantgardemusikers Angus MacLise aus dem Jahre 1969. In 365 Zeilen wies MacLise jedem Tag des Jahres einen neuen Namen zu. Stabe liefert jetzt, ein halbes Jahrhundert später, die dazugehörigen Bilder.
Das Verhältnis der ausgestellten Zeichnungen zu Sprache und Text ist also komplexer als der bloße Vergleich mit Wortarten es beschreiben könnte. Es gleicht bei Beck und Stabe vielmehr dem Vorgang der Artikulation im kulturwissenschaftlichen Verständnis des Begriffs, der sich als Praxis versteht, Phänomene, Begriffe, Sachverhalte, Kunstwerke, Texte, Filme, Musik etc. denkend und schreibend miteinander zu verbinden, ohne auf die Allgemeingültigkeit der daraus resultierenden Erkenntnis zu beharren. Artikulation weiß um ihre Subjektivität, sieht darin kein Defizit, erkennt sie als ihre besondere Qualität.
Wenn Beck sich Kippenbergers Titel vornimmt, so stößt sie auf Sprache als Angebot zur vielfältigen Auslegung. Es ist nichts Zwingendes zu finden in diesen Worten, und doch ist bei ihrem Autor, so weiß man, immer alles zwingend, und das muss mitgedacht, ernstgenommen, einbezogen werden. Darin nicht unterzugehen, sondern sein eigenes zu formulieren, erfordert maximale Offenheit Prozess und Endprodukt betreffen, und so verknüpft Beck in alle Richtungen, thematisch wie stilistisch, und das ist Artikulation.
Stabe antwortet auf die konzeptuelle Lyrik von Angus MacLise mit konzeptioneller Beschränkung in der Wahl der Mittel. Doch auch bei Stabe mischen sich MacLises Biografie, dessen Bezug zu Drone Music und der New Yorker Avantgarde der frühen sechziger Jahre mit in die Kuli-Striche. Historische Innovationen aus Text und Musik artikulieren sich hier als zeichnerisches Innovationsmoment in Stabes Bildern. Drawing is articulation? Nein, aber sie ähnelt ihr, zumindest bei Beck und Stabe. Am Ende aber ist Zeichnung weder Verb, noch Nomen und auch nicht Artikulation, sondern in erster Linie Zeichnung, ein Medium, und das beweisen alle hier vorgenommenen und zitierten Zuschreibungen, mit hoher Integrationsfähigkeit. Drawing is Drawing. Emanzipiert und selbstbewußt. Darauf könnten wir uns sicher einigen, can't we?
Carsten Tabel, 2020