Wir freuen uns auf die Einzelausstellung Si tu veux nous nous aimerons von Juliette Sturlèse. Zeitgleich finden weitere Eröffnungen der SpinnereiGalerien auf dem Gelände statt. Ausstellungseröffnung: Freitag, 7. Juni 17 - 21 Uhr
ICH BIN HIER
„Nichts was wir benutzen, hören oder berühren, kann man in Worten so gut ausdrücken, wie die Sinne es wahrnehmen.“
— Hannah Arendt, Philosophin und Politologin, 1906–1975
Juliette Sturlèses Blick drängt über die Leinwand hinaus, in die Weite, auf Felder und Seen, über Landschaften und Meere. In ihrer abstrahierten Figuration manifestieren sich nicht nur Menschen und Landschaften, sondern werden Erinnerungen beschrieben und Sehnsüchte geäußert. Durch die Bilder sind Vergangenes und Zukünftiges ins Jetzt geholt und sichtbar gemacht. Die Essenz des Augenblicks transportiert sich durch die Farben auf die Netzhaut der Betrachtenden. Die weitläufigen Szenerien lösen Versprechen von Freiheit ein, die sich aus den vier Wänden des Alltags bahnbrechen. Sturlèse nimmt ihre Umwelt mit allen Sinnen wahr und verbildlicht kraftvoll die immanenten Emotionen welche Gerüche, Licht, oder zwischenmenschliche Begegnungen und Konflikte in ihr hervorrufen. Ähnlich wie der Schriftsteller Marcel Proust, eine wichtige Bezugsperson für die Malerin, der mit Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (1) eine siebenteilige Romanserie der „Erinnerung“ widmete, erschafft Sturlèse mit ihren Werken eine visuelle Sammlung unzähliger persönlicher Eindrücke.
Ihre Bilder können als Reflexion über das Leben wahrgenommen werden. Ihnen wohnt mal das sanfte Licht Südfrankreichs, ein anderes Mal die raue Schönheit Englands inne. Sturlèse bewegt sich zwischen den beiden Orten und fängt ihre jeweilige Energie ein. Die Übersetzung der Erlebnisse in die Malerei ist auch ein Versuch, der Digitalisierung Widerstand zu leisten. Bereits um 1840 soll der Maler Paul Delaroche den „Tod der Malerei“(2) ausgerufen haben, nachdem er eine der ersten Fotografien sah. Tatsächlich erscheint die ungeheuerliche Flut an Bildern, der wir tagtäglich ausgesetzt sind, vulgär im Vergleich zu der Unmittelbarkeit der Malerei. Denn ist es gerade die Sehnsucht nach Poesie, das Verlangen nach der lebendigen Oberfläche und nach der einnehmenden Haptik der Materialität, die die Malkunst erstarken lässt.
In Sturlèses Atelier werde ich aufgefangen von der leuchtenden Farbigkeit und dem flächigen Kolorit. Ich beginne sofort in den vermeintlich abstrakten Bildern Bezüge zur Gegenständlichkeit zu ziehen, entdecke Bäume und Figuren, Berge und Felder. Aber mir wird auch unmittelbar bewusst, dass es meine eigenen Erfahrungen und Referenzpunkte sind, die zu diesen Beobachtungen führen. Welche Zusammenhänge mögen andere BetrachterInnen ziehen?
Die neue Werkgruppe scheint sinnbildlich für das Innen und Außen. […] Für Sturlèse, die Autorin der Bilder, bietet die Leinwand die nötige Sicherheit, beiden Zuständen Raum zu geben. Jedes einzelne Pigmentkorn fügt sich, wie die Worte einer Erzählung, zu einem bildhaften Konstrukt zusammen. Landschaften und Szenerien werden sorgsam aufgebaut, zusammengehalten durch Öl oder Bienenwachs als Binder. Im Gegensatz zu herkömmlichen Malmitteln vermischt das Wachs die einzelnen Pigmente nicht, sondern legt sie neben- und übereinander. Wie sichtbargewordene Elektronen um den Atomkern kreisen sie umher, stoßen sich ab und ziehen sich an, die Intensität jedes einzelnen Farbpartikels bleibt für sich sichtbar. Die Zeit im Atelier gehört für die Malerin zum Leben. Ihr Leben ist die Malerei. Der Drang zu erschaffen, zu erkunden, am Material zu verzweifeln und am Sujet zu scheitern ist essenzieller Bestandteil der metaphysischen Spiritualität, die die Auseinandersetzung mit dem Medium bereithält.
In den Bildern findet vor allem die Vergänglichkeit des Augenblicks Ausdruck. Der Wunsch den Moment festzuhalten, dauerhaft schwelend im Inneren der Malerin, manifestiert sich auf der Leinwand. „I'm trying to remember what I felt about a certain cypress tree and I feel if I remember it, it will last me quite a long life,“(3) erklärte Künstlerin Joan Mitchell. Sturlèse versucht nicht nur sich zu erinnern, sondern ihrer Umwelt das Wahrgenommene zurückzuspiegeln. Großzügig gestattet die Malerin uns Einlass in ihr tiefstes Inneres, teilt ihre Aufzeichnungen mit uns und fordert uns dazu auf, es ihr mithilfe ihrer Bilder gleich zu tun.
Text von Nicola Petek
(1) Französischer Originaltitel: À la recherche du temps perdu, erschienen zwischen 1913 und 1927. Vgl. Proust, Marcel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Frankfurter Ausgabe 1-3, Hrsg. Luzius Keller, 3. Aufl., Frankfurt am Main, 2017. (2) Vgl. Stiegler, Bernd: Theoriegeschichte der Photographie, Ann Arbor 2006, S. 404. (3) Livingstone, Jane (Hrsg.): The Paintings of Joan Mitchell, San Francisco 2002, S. 26.