Wiederholung, Adaption und Transformation bestehenden Bildmaterials ist ein Grundprinzip künstlerischer Praxis. Schon in der Antike wurden Höhepunkte der Bildhauerkunst durch Repliken, Kopien und Varianten vervielfältigt, verbreitet und auf diese Weise bekannt gemacht. Marcel Duchamps Ready-made und Andy Warhols Factory haben im 20. Jahrhundert zu einem Bruch mit Dogmen von Originalität und Innovation und zu einer verstärkten Auseinandersetzung mit der kunsthistorischen Tradition durch Künstlerinnen und Künstler geführt. Zitation und Aneignung wurden in der Folge zum Instrumentarium eines postmodernen Bildverständnisses, als dessen prägendes Stilmerkmal die Wiederholung gelten kann.
Nichts Neues verheißt in diesem Sinne Christian Holzes Ausstellungstitel NOTHING NEW und inszeniert in Form eines virtuellen Reenactment das Comeback eines der Hauptwerke späthellenistischer Skulptur: Der Borghesische Fechter (Louvre, Paris). Die lebensgroße Marmorstatue, die einen jungen Krieger in Ausfallstellung zeigt, fand schon bald nach ihrer Auffindung im Jahr 1609 in der Nähe von Rom Eingang in die Sammlung des Kardinals Scipione Borghese. Seitdem oft kopiert und rezipiert, erfuhren besonders die präzise Ausführung der anatomischen Details des athletischen Körpers und das komplexe Bewegungsmotiv große Bewunderung unter Künstlern und Gelehrten. So schuf Gian Lorenzo Bernini 1623 seinen David (Galleria Borghese, Rom) auf der Basis der Aneignung wesentlicher Elemente des antiken Vorbildes. Berninis Statue gilt als ein Hauptwerk des europäischen Barocks, in welchem sich Natur- und Antikenstudium zu einer dynamisch-lebendigen, allansichtigen Figur mit expressiver Mimik von meisterhafter Ausdruckskraft verbindet.
Während die einst gefragten Gipsabgüsse antiker Plastik heute eher ein Schattendasein in historischen Sammlungen führen, erleben der Borghesische Fechter und Berninis David neben vielen anderen Meisterwerken der Skulptur eine »Renaissance« in der virtuellen Realität und bilden den Cast für neue Rollen in anderen Kontexten: Webportale vertreiben sie als 3D-Scans für Entwickler von Computeranimationen, für Werbeagenturen sowie Film- und Fernsehproduktionen. Auf der Basis solcher kommerziellen 3D-Objekte entwickelt Holze Rendergrafiken. Dabei modelliert er losgelöst von physikalischen Eigenschaften wie ein Bildhauer im simulierten Raum mit verschiedenen Werkzeugen und Verfahren. Raytracing und Clothcollision heißen die neuen digitalen Tools zur Ausarbeitung von Spiegelungen auf Oberflächen und zur Steuerung der Fusion von Stoffen und Objekten. Der immaterielle Charakter gepaart mit realistischen Licht- und Glanzeffekten bestimmen das visuelle Erscheinungsbild dieser Metamorphosen, von denen man nicht recht weiß, ob sie schon Wirklichkeit oder noch im Bereich der Imagination zu verorten sind. Neben Bildern mit weich fließenden Faltenwürfen verschmelzen bei Holze immer wieder die Physiognomien der beiden Heldenskulpturen in mehr als brüderlich konnotierten Umarmungen zu einer verflüssigten, polymorphen Masse. Plastischen Doppel-Standbildern gleich verkörpern sie Momentaufnahmen möglicher Zustände einer Bewegung im virtuellen Raum bei totaler Durchlässigkeit und minimaler Abprallstärke. So verbinden sich die Avatare von Berninis David und des antiken Kriegers zu postmodernen »Tableaux Vivants« jenseits von Malerei und Bildhauerei.
Den Verlauf der Ausgangsformen in digitale Farboberflächen ohne materielle Struktur übersetzt Holze in Inkjet-Prints auf Leinwand, die schließlich lasiert sowie partiell mit Pinsel und Farbe händisch übermalt werden. Als gedruckte Originale behaupten sie so ihren eigenen, inneren Widerspruch. Der klassische Leinwand-Kunstdruck nach berühmten Gemälden großer Meister kann als zeitgemäße Marktantwort auf eine gesellschaftlich verankerte Sehnsucht des Individuums nach der Materialität des unerschwinglichen Originals, dessen Erwerb einer finanzstarken Elite vorbehalten ist, verstanden werden. Holze thematisiert in seinen Werken die Beziehung zwischen Kunstschaffen und Kommerzialität und verarbeitet dabei Motive und Fragen der Vermarktung von Copyrights und Branding-Phänomene aus der Modeindustrie.
So tauchen in Holzes Bildern immer wieder digitale Wasserzeichen auf, die auf Online-Bilddatenbanken verweisen. Als Kopierschutz haben sie die Funktion, unkontrollierter Verbreitung und nicht autorisierter Verwendung von Bildmaterial entgegenzuwirken. Auch bei Holze markieren sie seinen Besitzanspruch auf Urheberschaft in Form eines Signets und legen sich wie ein transparentes Gewebe über die grafischen Figuren. Nicht zu übersehen ist in diesem Zusammenhang die Parallele zum Luxussegment einer hochcodierten Modewelt. Auf Textilien gedruckte Logos und Markennamen visualisieren nicht nur die Zugehörigkeit eines bestimmten Firmenfabrikats, sondern tragen als maßgeblicher Faktor zum Verkaufswert und hierdurch zum Erfolg eines Artikels bei. In der Mode findet die Überhöhung von Konsumprodukten und der Fokus auf das Label insbesondere überall dort statt, wo der Name zum »added value« wird und damit konkreten Einfluss auf die Aura des begehrten Fetischobjekts hat.
Unternehmenskooperationen aus dem Kreativ- und Kulturbereich nutzen diesen Mechanismus, um Image, Stil und Ansehen bestimmter Künstlerpersönlichkeiten auf kommerzielle Erzeugnisse zu übertragen. Im Januar 2020 launchte das Modelabel Highsnobiety seine neue Old Masters-Linie in Zusammenarbeit mit Sotheby's. Im Geiste digitaler Vervielfältigungskultur werden Kunstwerke auf T-Shirts und Sweater reproduziert und mit Elementen aus Sotheby's Corporate Design und dem Firmenlogo kombiniert. Drei Jahre zuvor präsentierte Virgil Abloh auf der Paris Fashion Runway Show seiner Marke Off-White die neue Herbst/Winter-Kollektion 2017: “Nothing New”. Das auf Instagram publizierte Kampagnenbild zeigt eine Schwarzweißversion von Duchamps Mona Lisa mit Bart (L.H.O.O.Q, 1919) unter nachträglicher Hinzufügung des berühmten Pseudonyms des Künstlers »R. Mutt 1917«. Diese Signatur findet sich in der Form allerdings nur auf seiner Fountain von 1917, dem bekanntesten Ready-made der Kunstgeschichte.
Die Idee des Samplens und die freie Montage von Versatzstücken aus verschiedensten Quellen, die Durchdringung von Populär- und Hochkultur, von Street Wear und Haute Couture im Modebetrieb steht in der Tradition einer bewährten Kulturtechnik. Indem sich Holze all diese Bedeutungszusammenhänge für seine künstlerische Praxis aneignet, erhebt er zwar den Anspruch auf Autorschaft, verweist zugleich aber auch auf den Ursprung seiner Modelle aus Datenbanken und den Produktcharakter der von ihm geschaffenen Kunstwerke für einen Markt, auf dem das Prinzip der Preisbestimmung und Wertsteigerung ausschließlich an den Namen des Künstlers gebunden ist. In diesem Sinne lässt sich auch die von Holze vorgenommene Etikettierung seiner Werke mit Plaketten oder Anhängern einerseits als Künstlersignatur, andererseits als Warenkennzeichnung lesen, die dazu dienen, Authentizität zu bezeugen und eine Marke zu prägen. Die Anordnung der Bilder im Ausstellungsraum auf einem modularen Trägersystem aus variablen Aluprofilen ist wiederum als Referenz auf das Arbeiten im virtuellen, dreidimensionalen Raum zu verstehen.
Über den Schöpfer des Borghesischen Fechters ist übrigens nichts weiter bekannt. Allein die Signatur am Sockel der Skulptur hat seinen Namen der Nachwelt überliefert: Agasias von Ephesos, dessen Ruhm durch ein einziges Werk unsterblich gemacht wurde. In der Forschung wird bisweilen vermutet, dass der Marmorstatue ein verlorenes Bronzevorbild zu Grunde gelegen haben könnte. In diesem Fall wäre die Künstlersignatur umso bemerkenswerter, denn das ließe den Schluss zu, dass es schon zu antiken Zeiten ein Bewusstsein dafür gegeben haben könnte, Übertragungen nicht als reine Reproduktion anzusehen, sondern Transferprozesse als künstlerische Eigenleistungen im Sinne der Weiterverarbeitung anzuerkennen. Unterschiede in Material, Format und Werkzeug sowie individuelle Vorlieben und Fertigkeiten führten immer schon zu Abwandlungen und Umformungen und damit stets zu neuen Kunstwerken – soweit also nichts Neues.
Anka Ziefer, 2020