Für die entscheidenden Momente bedarf es Ruhe. Keine Ablenkung, keine fremden Rhythmen, die eine Geschwindigkeit vorgeben. Nur die Klarheit der Gedanken und jene Alltagsgeräusche, die durch das offene Fenster dringen, erfüllen dann den Raum. Mit dem Skalpell ritzt die Künstlerin vorsichtig Linien in das Papier, welches anschließend in Tusche getränkt wird. Einem spirituellen Ritual gleich wird das Blatt immer wieder ausgewaschen, bearbeitet und erneut in Farbbäder gesetzt. Die entstehenden Spuren erzählen von dieser ganz eigenen Zeichentechnik, aber noch von soviel mehr – sie sind keine zufälligen Relikte, sondern bewusst und durchdacht konstruiert. Welche Momente die Tusche endgültig sichtbar macht, bleibt dem Zufall geschuldet. In Wanda Stolles meist parallel entstehenden Wandobjekten vollzieht sich nicht nur eine Übersetzung in die Dreidimensionalität, sondern auch eine monumentale Vergrößerung. Was sich in beiden Medien offenbart sind Faltungen von Materialien und Bahnen, dynamische Aufwölbungen und Vertiefungen, Glanzlichter und Verschattungen. Sie bieten neue Perspektiven auf Raum, Licht und Materialität.
Die Falte als künstlerisches Motiv und Konzept hat eine lange und vielfältige Geschichte. Sie kann sowohl als körperliches Merkmal, als auch als metaphorisches Element interpretiert werden und dient als Brücke zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion, Tradition und Innovation. Des weiteren bietet sie unendliche Möglichkeiten für poetische Auseinandersetzungen und Interpretationen. Die detaillierte Darstellung von Gewändern und deren Faltenwurf attestierte bereits in der Antike die Kunstfertigkeit der KünstlerInnen und ihrer Begabung, die Wirklichkeit möglichst naturnah in die Werke zu übertragen.[1] Mit der Entwicklung der ungegenständlichen Kunst im 20. Jahrhundert gewann die Falte eine neue Bedeutung. KünstlerInnen wie Lucio Fontana experimentierten mit dem Konzept der Falte in ihren Werken, indem sie Materialien wie Leinwand und Papier physisch manipulierten.[2] Diese Arbeiten forderten die traditionellen Grenzen der Malerei und Skulptur heraus und erweiterten das Verständnis von Raum und Form.
In der zeitgenössischen Kunst wird die Falte oft als Symbol für Transformation und die Komplexität menschlicher Erfahrungen interpretiert. Die Auseinandersetzung mit Stolles Werk ermöglicht Assoziationen der Falte als Symbol für die Vergänglichkeit, die Veränderlichkeit der Zeit und die Komplexität menschlicher Beziehungen. Die tiefe Beschäftigung der Künstlerin mit Texturen, Oberflächen und dem Spiel von Licht und Schatten gleicht einer Expedition, welche die Falte in unterschiedlichen Formen und Dimensionen erforscht. In den Skulpturen und Zeichnungen werden expressive Bewegungen, der Facettenreichtum des Raums und die Flüchtigkeit des Moments festgehalten. Durch das Zusammenspiel von Form und Material schafft Stolle atmosphärische und emotionale Landschaften, die den BetrachterInnen ein intensives und sinnliches Erlebnis bieten und gleichzeitig Platz für eigene Gedanken und Emotionen lassen.
Nicola Petek, 2024
[1] Vgl. Werner Fuchs: Die Skulptur der Griechen, München 1969. 4. Auflage 1993. [2] Vgl. Orford, Emily-Jane Hills: The Creative Spirit: Stories of 20th Century Artists. Ottawa 2008.