Ausstellungseröffnung zum Rundgang der SpinnereiGalerien am 13. Januar 2024 von 11 bis 19 Uhr. An diesem Tag eröffnen alle Galerien auf dem Gelände der alten Baumwollspinnerei in Leipzig neue Ausstellungen.
DAY OF THE VOYAGE
Durch die Tiefen der Ozeane und bis in beinahe vergessene, uralte Orte führt die Reise in Claus Georg Stabes Bildern. Diese kaleidoskopische Expedition nimmt uns mit vom Kleinsten zum Größten, vom Mikro- zum Makrokosmos, vom Detail zur umfassenden Aufsicht. Am Ende stehen wir der Entgültigkeitssetzung der Zeichnung gegenüber. Uns, den Betrachtenden, wird immer eine beobachtende Rolle zugeschrieben. Im Falle der bei REITER in Leipzig gezeigten Werkgruppe bleibt allerdings unklar, ob wir von weiter Ferner oder nächster Nähe zusehen. Aus der betörenden Hitze eines Sommertags oder der klirrenden Kälte einer Winternacht heraus begreifen wir die Bilder auf unterschiedliche Art. Alpträume stehen Wunschträumen gegenüber, Sonnenaufgänge transformieren sich zu abendlichem Zwielicht und saftige Landschaften werden zu kargen Einöden.
Durch die Bilder begeben wir uns auf eine Reise, durchleben wir ein Jahr, bekommen wir einen Einblick in ein Leben. Von Jahreszeit zu Jahreszeit, von Pol zu Pol, von Erinnerung zu Erinnerung wandert der Zeichner durch sein Innerstes und lässt uns teilhaben. Zweidimensional und doch enorm vielschichtig gewähren die Blätter Einblick in leuchtende Traumräume, die wie durch einen dünnen Vorhang Einblick in eine Parallelwelt der Formen erlauben. In der Betrachtung werden wir Teil der Erzählung, die nur dann wirklich existieren kann, wenn sie mit anderen geteilt wird. Die Bilder offenbaren Persönliches und Angeeignetes, fremde Eindrücke vermischen sich mit eigenen Erfahrungen und schaffen am Ende ein Gefüge zwischen absoluter Auflösung und kontrollierter Erschaffung.
Darin liegt der tiefgründigste Aspekt der Arbeit des Künstlers: in den sichtbaren und unsichtbaren Verbindungen. Die Rhythmen der Linien, das pulsierende Zusammenziehen und Ausdehnen, können als Essenz einer Welt verstanden werden, in der die Tage sich ständig wiederholen, ohne eintönig zu werden. Im Gegenteil, die Wiederholung bietet Stabe vielleicht Halt und Sicherheit, denn sie ist eine verlässliche Komponente die Konsistenz verspricht. Hoffnungsvoll wiederholt sich der Strich, den er, einem Ritual gleich, Tag für Tag auf das Papier setzt. In den Kugelschreiberzeichnungen überlagern sich unzählige Einzellinien zu Flächen und Geweben, zu Gegenständen und Szenerien, zu Mahnungen und Forderungen. Die Zeilengrafik entsteht mittels Kugelschreiber auf Papier. Durch die Veränderung des Stiftdrucks entstehen dichtere und hellere Linien, und wechselnde, lasierende Tinten erzeugen eine erhabene Farbgebung. Die horizontalen Spuren bilden konkrete, verfremdete und abstrakte Motive und hüllen sie in eine rätselhafte Aura.
Die Zeichnungen und Collagen erinnern hiermit in ihrer Ästhetik an zeitgenössische Tapisserien. Wie Zeugnisse wichtiger Ereignisse und einzelner Momente deren Narrative der Künstler verwebt und somit mit uns teilt. Im spätmittelalterlichen Europa war der Wandteppich das prächtigste und teuerste Medium für figürliche zweidimensionale Darstellungen, und trotz des raschen Bedeutungszuwachses der Malerei behielt er diese Stellung in den Augen vieler Renaissance-Mäzene mindestens bis zum Ende des 16. Jahrhunderts, wenn nicht darüber hinaus.[1] Historisch gesehen geht die Ikonographie eines großen Teils der erzählenden Wandteppiche auf schriftliche Quellen zurück, wobei die Bibel und Ovids Metamorphosen zwei beliebte Beispiele sind. Im Falle von Stabe bildet diese Einführung ein Gedicht von Angus MacLise (1938-79). Der amerikanische Perkussionist, Komponist, Dichter, Okkultist und Kalligraph benennt in „The New Universal Solar Calendar“ die Tage des Jahres um. Die Titel der einzelnen Arbeiten werden durch Stabe aus dem Poem entlehnt, und vermitteln den mystischen Illuminationen in ihrer kryptischen Sinnbildlichkeit eine weitere Komponente.
Der 31. März wird bei MacLise zu The Topaz Glove. Die gleichnamige Arbeit Stabes, The Topaz Glove IX, 2023 steht uns auf den ersten Blick als abstrakte Darstellung gegenüber. In der tieferen Auseinandersetzung lassen sich Bezüge zu Blütenblättern, vielleicht einer Lilie, ziehen. Bedenkt man dann jedoch den Titel mit, eröffnen sich gänzlich neue Interpretationsmöglichkeiten. Nun erkennt man die Finger eines Handschuhs, mehr als die üblichen fünf, vielleicht handelt es sich um ein Paar. Durch das Flirren der Farben könnten wir uns auch einer optischen Täuschung ausgesetzt sehen, die uns den Gegenstand doppelt sehen lässt. Bei Topas handelt es sich um ein farbloses oder in vielen hellen Farben vorkommendes, transparentes, glänzendes Mineral, das als Edelstein verwendet wird – ein gänzlich unpassendes Material also, um Schutz oder Wärme zu bieten. Durch die Konnotation von Handschuh und Schmuckstein lässt das Objekt Bezüge zu Armreliquien zu. Hierbei handelt es sich um Behältnisse zur Aufbewahrung und zur feierlichen Aussetzung der Überreste von Heiligen, aus Holz oder Metall, vorwiegend vergoldetem Silber. In diesem Objekt in Form eines Unterarms mit Hand befindet sich eine Aushöhlung zur Aufbewahrung der Reliquie. Die Höhlung ist in der Frühzeit gewöhnlich ganz verdeckt, später durch ein Gitter oder durchsichtiges Material – wie etwa Halbedelsteine oder Edelsteine verschlossen, das die Reliquie sichtbar lässt und zum Öffnen eingerichtet ist.[2]
Welche tatsächliche Bedeutung der Handschuh, das Mineral und das Datum des letzten Tages des März für den Künstler selbst trägt, werden wir vielleicht niemals erfahren. Wie eingangs erwähnt ist das Werk von Claus Georg Stabe gesichert in seiner Funktion und klar definiert, spricht aber dennoch den Betrachtenden die Einladung aus, sich den eigenen Assoziationen zu öffnen, selbst Rückschlüsse, Verbindungen und Erinnerungen anzustoßen und neue Denkweisen zuzulassen.
[1] Vgl. Campbell, Thomas P., Henry VIII and the Art of Majesty: Tapestries at the Tudor Court, Yale 2007. [2] O. von Falke, R. Schmidt, G. Swarzenski, Der Welfenschatz, Frankfurt a. M. 1930.