Die Kunst von Clemens Tremmel folgt der Spur des zu Schauenden. Dafür hat er in seine Malerei anfangs Blickfallen eingebaut. Frühe Arbeiten sind rechtwinklig durchfenstert, metallen abgedeckt und zugenagelt, verkratzt und ausgerissen, zerteilt und neu zusammengesetzt, sogar verkohlt. Die Malerei soll sich nicht am Sichtbaren erschöpfen, lautete da sein Imperativ. Die Kultur des Augenblicklichen, unsere visuelle Alltagskultur, prallt hier ab; für die Durchsicht auf ein Dahinter sind Widerstände zu überwinden, wir haben unseren Teil hinzuzuschauen. Vor Tremmels Bildern werden wir zu Schauenden, ahnen einen Zustand, der sich mit dem künstlerischen Schöpfungsprozess parallelisieren soll.
Ein unzeitgemäßes Naturverständnis liegt dem zugrunde, das sich von der Umweltfürsorge der Gegenwartskunst kategorisch unterscheidet. Tremmel überträgt die Kräfte der Natur ins Malerische. Dort kommen sie uns vertraut vor, weil sie auch in uns wirken. Mit dem Landschaftlichen knüpft er an eine heute im Grunde der Fotografie überlassene Bildtradition an, und er weiß dem rational eingeengten Okulus des Fotografischen das bildende Prinzip der Malerei durchaus triumphal gegenüberzustellen. Dafür hat er inzwischen verschiedene malerische Modi entwickelt, die, entlang der Inseln, die er besucht und sich dort dazu anregen lassen hat, einen Archipel bilden.
In Analogie zu den gewaltigen physischen Prozessen, die er sich auf Island als seinem nordischen Kythera abgeschaut hat, kratzt, wischt, hackt, rakelt, schabt und – malt – Tremmel, was auf keine Leinwand geht: Daher die widerständigeren Malgründe, Kunstholz, Metall und Acrylglas. In einem geradezu geologischen Auf- und Abtragungsvorgang von Farben und Emulsionen entsteht ein Bildraum, in dem sich erst ganz zuletzt das Landschaftliche verdichtet und von kaltem Gegenlicht konturiert wird. In diese dichte Naturschau hinein schießen in den jüngeren Werken Pigmentwirbel durch den Raum auf die Bildoberfläche: Ein malerisches Äquivalent für das Unsichtbare, das Tremmel nun nicht mehr verbirgt. Anders als der isländische Geysir, in dessen tosenden, blauweißen, vulkanisch induzierten Wasserkraftschüben dies präfiguriert sein mag, verharren seine Farbgesten im malerischen Raum und bilden dort dinghafte Qualitäten aus. Es handelt sich um Manifestationen der schöpferischen Ekstase. Diese verschwenderisch-geheimnisvolle Elementarkraft, die gleichermaßen hinter dem Sichtbaren der Natur und hinter dem der Kunst wirkt, tritt in diesen Bildern in den Vordergrund.
Inzwischen hat sich der Inselkreis erweitert; den nordischen haben sich südliche und fernöstliche Inseln angeschlossen. Dem entspricht eine Verschiebung im Kolorit, welche spielerisch mit der kanonischen, auf das Erhabene gerichteten dunkelkühlen Palette der nordischen Natur bricht. Doch es geht nicht um Reiseeindrücke; die Distanz wirkt vielmehr als Katalysator für malerische Mittel, die sich Tremmel aus der Ferne für die Arbeit im Leipziger Atelier zu erschließen scheinen. Denn nachdem es die Natur war, die den Maler zum Bilden herausgefordert hat, tritt nun die Kultur in Form der Geschichte auf den Plan. Auch hier geht er von der Vedute, vom touristischen Blick aus, um diesen dann an den Rand zu drängen: mit dem Ornament, der Schrift, mit Zeichenhaftem, mit reiner Malerei. Tremmel sprengt die Grenze des Bildes erneut, indem er nicht anerkennt, dass ein Bild nur ein Bild sein soll. Spielten die „nordischen“ Bilder noch mit dem einheitlichen Bildraum, so ist dieser in den „östlichen“ einem Pluralismus gewichen, die nur noch sukzessiv erschlossen werden können. Dadurch flicht sich etwas Erzählerisches in die Zeit des Betrachtens. So eklatant das aufgefächerte Verschiedene aufscheint, so souverän hält der Künstler die Elemente malerisch zusammen: zumeist mit einer wie eine Großsignatur dem Format zuletzt überschriebenen konturhaften Lineatur.
Als ob selbst das Viele nicht genug wäre, hat Tremmel mit seinen letzten Bildern sich gleichsam im delischen Heiligtum seines Archipelagos eingefunden und mit dem Glanz des Messing, der nun als Bildgrund dient, eine uralte, ihm aus russischen Ikonen bekannte malerische Beschwörungsformel aufgerufen. Der Goldgrund, der byzantinische Glanz, der das Dahinter als ein Unbewegtes aufscheinen lässt, verbindet sich mit dem plasmatischen Wirbel zur prima materia der Malerei. Der Maler erwirbt hier der westlichen Malerei etwas zurück, das diese längst aufgegeben hatte. Derart undogmatisch vergegenwärtigt sich dieser alte Glanz des zu Schauenden selten – die Kunst von Clemens Tremmel strahlt ihn aus.
Dr. Ulf Jensen (Textauszug Katalog Clemens Tremmel »Archipel« 2017)